Die Zeit 1945 bis 2000: Wachstumsjahre einer Nachkriegszeit

von Joachim Graf

19.08.2021 Mit dem Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit steigt der Hunger der Deutschen nach den schönen Dingen des Lebens. Neben den großen Warenhäusern sind es Versandhandelsunternehmen die diesen Hunger stillen. Doch schon bald gerät die Konsummaschine ins Stocken.

 (Bild: Gerd Altmann auf Pixabay)
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 (Bild: HighText Verlag)
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Die fünfziger und sechziger Jahre sind eine Erfolgsgeschichte - und ein Jahrzehnt der Patriarchen. Der Arisierungs-Gewinner und spätere "Versandhauskönig" Josef Neckermann wird schon im März 1949 von den Alliierten als bloßer "Mitläufer" eingestuft. Seit 1948 hat sich Neckermann   eine Kartei mit 100.000 Adressen aufgebaut und die Logistik für den Versand organisiert. Ihm kommt zugute, dass schon 1948 die "Arbeitsgemeinschaft der Adressenverleger" gegründet worden war, dem späteren "Allgemeinen Direktwerbe- und Direktmarketing Verband (1981), aus dem 2008 der Deutsche Dialogmarketing Verband   wird.

Der erste Neckermann-Katalog erscheint im März 1950 als zwölfseitiges Heft mit dem Titel "Preisliste 119". Sie schließt nahtlos an die Preislisten-Nummerierung aus der Nazizeit an (die "Herbst-Preisliste Nr. 115" war 1940 erschienen). In Preisliste 119 bietet Neckermann 133 preisgünstige Textilartikel an - in einer Auflage von 100.000 Stück. Bereits im ersten Jahr erzielt der Konzern einen Umsatz von 10 Millionen DM. Er stößt aufgrund seiner niedrigen Preise auf eine hohe Nachfrage und gewinnt schnell eine große Stammkundschaft. Eine seiner wichtigsten Klientel in diesen Jahren sind die Heimatvertriebenen außerhalb der Ballungszentren, die sich sowohl durch die Zusendung seiner Kataloge als auch durch die niedrigen Preise in besonderem Maße angesprochen fühlen. 1953 erweitert er das Angebot um Kleinmöbel, Lederwaren, Lampen, sowie durch einen - mit 187 DM konkurrenzlos günstigen - Radioapparat. Im Jahr darauf bietet Neckermann erstmals auch Kühlschränke und Fernsehgeräte an (darunter ein Modell, das mit 648 DM ein Drittel günstiger ist als bei der Konkurrenz). Im Jahr 1955 nimmt Neckermann auch Fahrräder und Waschmaschinen in sein Sortiment auf.

Weil die Alliierten gegenüber Josef Schickedanz wegen seiner NS-Vergangenheit 1945 ein Berufsverbot verhängt und ihn zu einem Jahr Zwangsarbeit verurteilt haben, übernimmt die Schickedanz-Schwester Liesl Kießling die treuhänderische Verwaltung des Unternehmens Quelle   . Gustav Schickedanz wird im Entnazifizierungsverfahren im März 1949 ebenfalls nur als "Mitläufer" eingestuft. In der Anklage ist davon die Rede, dass von seinem damaligen Vermögen von 9,3 Millionen DM über 7 Millionen aus jüdischem Besitz stammen. Er bekommt dennoch sein Unternehmen zurück und wird schon zehn Jahre später Fürther Ehrenbürger. 1954 beträgt der Umsatz von Quelle bereits 260 Millionen DM. In Fürth eröffnet das erste Quelle-Kaufhaus und die Kartei ist von ursprünglich 10.000 auf eine Million Kundenadressen angewachsen - auch dank der "Arbeitsgemeinschaft der Adressenverleger". Die auffällige, neue Freundschaftshand taucht 1953 als Signet seiner "Quelle-Nachrichten" genannten Preisliste auf und soll optisch das unsichtbare Band zwischen Quelle und Kundschaft ausdrücken: "Hand drauf!" als Zeichen von Vertrauen und Garantie. 1954 löst ein zweimal jährlich erscheinender Hauptkatalog die bisherigen Preislisten ab, zwischen Nürnberg und Fürth entsteht ein riesiges Versandzentrum, das bis zu 100.000 Lieferungen pro Tag bewältigen kann: Nötig, bei mittlerweile 1,8 Millionen KundInnen.

Auch andere Versandhandelsunternehmen knüpfen an den Vorkriegserfahrungen an, rund 4.000 werden es in den 50er Jahren sein: Bader   startet 1945 mit 12 Angestellten neu und hat bereits 1949 den Vorkriegsstand wieder erreicht - 1938 hatte der Bader-Katalog 100 Seiten und das Unternehmen 500 Angestellte. 1952 verschickt Bader seinen ersten Bekleidungskatalog. Erst 1965 werden die beiden Kataloge "Bader Schmuck" und "Bader Moden" in einem großen Katalog zusammengefasst. Friedrich Baur startet nach der Währungsreform und veröffentlicht ein Jahr später seinen ersten Katalog. Aus dem Stand erwirtschaftet das Unternehmen einen Umsatz von 5 Mio. DM.

Im August 1949 gründet Werner Otto in Hamburg-Schnelsen den "Werner Otto Versandhandel". Im Folgejahr 1950 erscheint der erste Katalog, in dem auf 14 handgebundenen Seiten 28 Paar Schuhe präsentiert werden. Die Auflage beträgt 300 Exemplare. 1951 umfasste der erste gedruckte Katalog 28 Seiten und bietet unter anderem Schuhe, Aktentaschen, Regenmäntel und Hosen an. Bis 1953 verfünffacht Otto seinen Umsatz. 1958 gehört der Otto Versand   mit einem Umsatz von 100 Millionen DM bereits zu den Großen der Branche. Die Zahl der Angestellten wächst bis 1960 auf über 2.000.

Bei Witt-Weiden   laufen die Geschäfte nach dem Weltkrieg nur schleppend an. Macht der Textilfabrikant 1934 noch 86 Mio. Reichsmark Umsatz mit seinen über 5.000 Angestellten, so kann der Textilversender 1948 lediglich 3 Millionen DM umsetzen. Bis 1950 klettert der Umsatz aber wieder auf 90 Millionen. Nach dem Tod Josef Witts rückt 1959 sein Sohn Josef Witt an die Spitze der Unternehmung. Mit Slogans wie "Wäsche kauft man bei Witt" oder "Kiwitt Kiwitt, nix Kiwitt: Witt Weiden Witt Weiden" machte sich das Unternehmen als eines der ersten Versender das neue Werbefernsehen zunutze. Da der Anteil der selbst gefertigten Textilien am Verkaufsumsatz rapide abnimmt, reduziert Witt ab 1963 die Eigenfertigung von Textilien und konzentriert sich auf den reinen Handel.

In der DDR wird der Versandhandel durch die staatliche Handelsorganisation (Centrum-Versandhandel, Leipzig; Konsument Versandhaus, Karl-Marx-Stadt) am 1. Mai 1956 eingeführt. Die allgemein schlechte Versorgungslage in der DDR wirkt sich aber auch auf den Versandhandel aus: Bis zur Hälfte der in den Katalogen angepriesenen Güter sind nicht lieferbar.

Wie eng Dialogmarketing und Versandhandel zusammenhängen, zeigt sich auch an der Entstehung des Versandhausberaters. Alfred Gerardi , Geschäftsführer der Ettlinger Direktmarketing-Werbeagentur Donelley & Gerardi und Versandhandelsprofi, hebt im August 1961 den Chefbrief "Der Versandhausberater" aus der Taufe. Gerardi IST der Versandhausberater: Er schreibt über die Branche und berät sie fast ein Vierteljahrhundert lang, bis er am 1. Mai 1985 im Alter von 54 Jahren stirbt.

Die Dialogmarketing- und die Versandhandelsbranche ist zu dieser Zeit eine reine Männergesellschaft. "Sehr geehrte Herren!", so lautet die Anrede seines wöchentlichen, mit der Schreibmaschine geschriebenen "Chefbriefs" über viele Jahre. Eine weibliche Ausnahme bestätigt hier die männliche Regel: die Pilotin Beate Uhse . Da die Besatzungsmächte jede fliegerische Tätigkeit verboten hatten, schlägt sie sich mit Schwarzmarktgeschäften durch und erfährt in Gesprächen mit anderen Frauen von deren Angst vor ungewollten Schwangerschaften. Beate Uhse bringt eine Broschüre über Knaus-Ogino heraus und verkauft sie bis 1947 zum Preis von 50 Pfennig 32.000 Mal. Das verschafft ihr Startkapital, um ihren "Betu-Versand" auch auf größere Städte wie Hamburg und Bremen auszudehnen. Bald verkauft sie auch Kondome und "Ehebücher". 1951 gründet sie mit vier Angestellten das "Versandhaus Beate Uhse"   , das Kondome und Bücher zum Thema "Ehehygiene" bietet. Anfang der 1960er Jahre hat die Firma bereits fünf Millionen KundInnen. 1962 eröffnete sie in Flensburg ihr "Fachgeschäft für Ehehygiene", den ersten Sexshop der Welt.

Josef Neckermann weitet seine Angebotspalette ab Anfang der 1960er Jahre über das reine Konsumgütergeschäft aus: Fertighausfirma Neckermann Eigenheim, Reiseveranstalter NUR, Versicherung Neckura, Cluburlaub-Anbieter Aldiana   . Trotz wachsender Umsätze schreibt Neckermann rote Zahlen - Folge der eigenen Niedrigpreispolitik. Um die 131 Millionen DM Verbindlichkeiten aufzufangen, geht Neckermann 1963 an die Börse. Das geht eine Weile gut, aber der Versuch, durch Preiserhöhungen das Unternehmen zu retten, misslingt. Eine Rabattaktion zum Jubiläumskatalog 1975 bringt 4 Millionen DM Verlust. Im Juli 1976 muss Neckermann an Karstadt verkaufen. Die Neckermann Versand AG schreibt erst 1987 wieder schwarze Zahlen.

Quelle   ist seit 1964 das größte Versandhaus Europas - mit über 6 Millionen KundInnen. Das Wachstum geht bis zum Jubiläumskatalog 1977 weiter, der in einer Auflage von 7,6 Millionen Exemplaren gedruckt wird. 6,6 Milliarden DM stehen in den Büchern. Anderen machen die ersten Wirtschaftskrisen der Nachkriegszeit mehr zu schaffen. Schöpflin verkauft 1964 an Quelle, Klingel übernimmt 1969 Schmuckversender Diemer   und später Cornelia   , Vamos   und Mona   . Wenz   und weitere Marken folgen in den 90er Jahren. Ebenso wie der Heine-Versandhandel   wird der 1954 gegründete Schwab-Versand   1976 von Otto übernommen. Schwab wiederum schluckt 1987 Witt-Weiden und baut ihn zum DOB-Versender um.

Bei den DDR-Bürgern wächst der Unmut darüber, dass Versandhandelskataloge zwar Waren zeigen, diese aber nicht verfügbar sind. Damit die Diskrepanz zwischen Realität und Ideologie nicht zu groß wird, stellt die SED am 13. August 1976 den Versandhandel in der DDR per Dekret ein (Ausnahme: Kondome und Saatgut). Begründet wird der Schritt allerdings mit der "flächendeckend besseren Versorgungslage".

Im Westen sorgen die ersten PCs unterdessen für Furore. Versandhausberater-Macher Alfred Gerardi ist überzeugt von den digitalen Werkzeugen. Bei seiner Agentur Donnelley & Gerardi entsteht auf Basis des damals gerade von IBM auf den Markt gebrachten Personal Computers (PC) der D&G-Versandhauscomputer, eine Softwarelösung, mit der kleine Versandhandelsunternehmen ihre gesamten Prozesse steuern und abwickeln können. Die D&G-Software   ist bis heute als "Deutschlands meistgenutztes Warenwirtschaftssystem für Versand-, Online- und Multichannel-Händler" auf dem Markt.

Ebenfalls in den frühen 80er Jahren erfindet man in Deutschland den E-Commerce: 1980 startet Bildschirmtext (BTX) zunächst als Feldversuch, ab 1983 in den Regelbetrieb. Unter den 300 Unternehmen, deren Seiten über Post-Großrechner angezeigt waren, sind auch Versandhäuser. Otto beispielsweise baut bis 1999 einen 1.500 Seiten umfassenden "Telemarkt" auf - mit direktem Anschluss an sein Rechenzentrum.

"In der Nacht zum 1. Mai verlor die deutsche Werbewelt eine ihrer profiliertesten Persönlichkeiten", müssen AbonnentInnen auf der Titelseite der Versandhausberater-Ausgabe vom 10. Mai 1985 lesen: Der erst 54jährige Gerardi stirbt unerwartet. Sein Partner, der Fundraising-Experte Klaus Prochazka , übernimmt für die kommenden zehn Jahre die Herausgeberschaft, bevor er den Stab 1995 an Gerhard Kirchner weitergibt. Kirchner gründet 1997 den "Deutschen Versandhandelskongress", zunächst in Bad Homburg und dann in Wiesbaden. Auch erfindet er die Awards "Katalog des Jahres"   und "Versender des Jahres"   .

Die Wiedervereinigung sorgt für einen Boom im Versandhandel


Zwischen 1968 und 1977 hat sich der Umsatz im deutschen Versandhandel auf 16,3 Milliarden DM mehr als verdoppelt. Mit der Wiedervereinigung 1989 bekommt der Katalogversandhandel eine vorerst letzte Blütezeit. Auf einen Schlag gewinnen die Versandhandelsunternehmen 16 Millionen neue KundInnen, die darüber hinaus die großen Versandhandelsmarken sehr genau kennen: Schließlich sind die Kataloge von Otto, Quelle und Neckermann in der DDR als Sehnsuchtsobjekte sehr beliebt. Die nach Konsum gierenden DDR-BürgerInnen reißen sich um die Kataloge, kurz darauf können selbst SowjetbürgerInnen bestellen. Der Neckermann-Katalog beispielsweise erreicht nach der Wiedervereinigung im Jahre 1990 mit 1.000 Seiten Umfang und einer Auflage von 10 Millionen Exemplaren seine Höchstphase. So verbucht der Distanzhandel bis 1991 ein Umsatzplus von 43 Prozent.

Nach Schätzungen des BVH wächst die Zahl der in Deutschland versendeten Kataloge bis Ende der 90er Jahre auf jährlich ca. 500 Mio., das entspricht ungefähr 14 Katalogen pro Haushalt. Doch das hält die Konzentration im Versandhandel ebenfalls nicht auf: Otto übernimmt 1997 die Hälfte am Baur-Versand samt operativer Führung. 1999 fusioniert Quelle mit dem Warenhauskonzern Karstadt zur KarstadtQuelle AG, ab 2007 Arcandor AG   . Den Börsenboom vor der Jahrtausendwende nutzt vor allem die Beate Uhse AG, als sie zur Hochphase des New-Economy-Hypes 1999 an die Börse geht. Die Aktie des Erotikkonzerns ist 64-fach überzeichnet. Begehrt sind nicht zuletzt wegen der Abbildung zweier fast nackter Frauen auch die effektiven Stücke der Aktien. Doch die Zeitenwende deutet sich bereits an: Ende der 90er Jahre eröffnen die großen Versandhäuser ihre ersten Dependancen im Internet. Seit 1995 ist Otto.de online, Beate Uhse, Quelle und Neckermann folgen 1998, Baur.de geht 1999 live.

HighText Verlag   und Versandhausberater   starten 1999 als Joint-Venture den Branchendienst "Onlineshop-Manager", dem die Branche allerdings die kalte Schulter zeigt und der deshalb Ende 2001
wieder eingestellt wird.
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