Die Zeit bis 1945 - oder: Das Jahrhundert des Versandhandels
19.08.2021 Als Alfred Gerardi im August 1961 den Versandhausberater aus der Taufe hob, war beides bereits eine langjährige Erfolgsgeschichte: Er selbst hatte sich längst als Dialogmarketer einen Namen gemacht und auch der Versandhandel selbst besaß bereits eine sehr alte Tradition.
Der 'Tag des Versandhauskatalogs' erinnert zwar an einen der weltweit ersten Versandhauskataloge, den der US-amerikanischen Unternehmer Montgomery Ward
für sein Versandgeschäft in Chicago am 18. August 1872 verschickt hat. Doch erfunden wurde der Versandhandel in Europa bereits wesentlich früher (ebenso wie über ein Jahrhundert später der E-Commerce auf dem deutschen Btx-System und nicht in den USA erfunden wurde). In Deutschland betreibt August Stukenbrok Einbeck
(ASTE) seit 1888 in Einbeck einen Fahrradversandhandel - mit einem Katalog in Millionenauflage -, bis er 1931 aufgrund der Weltwirtschaftskrise insolvent geht.
Bereits 1870 entdeckt der Sachse Ernst Mey
auf einer seiner Reisen den abknöpfbaren Kragen. Er erwirbt das Patent, überzeugt seinen Geschäftspartner Edlich und macht den selbst produzierten Kragen seiner Kundschaft per Post zugänglich. So wird Mey & Edlich
1870 in Leipzig gegründet, der erste deutsche Modeversender entsteht. 2004 geht das Unternehmen Konkurs. Walbusch
übernimmt es und betreibt es seitdem als Textilmarke weiter. In Frankreich stellt bereits 1856 Aristide Boucicaut
, der Leiter von Le Bon Marché
, den ersten Versandkatalog vor. Zu Beginn wird hauptsächlich das Stadtgebiet von Paris beliefert, später ganz Frankreich. Boucicaut beteiligt übrigens seine Angestellten am Umsatz und am Gewinn - ein Geschäftsansatz, der erst 170 Jahre später wieder im Versandhandel Fuß fassen wird. Als "älteste Kakteenzucht der Welt" bezeichnet sich Kakteen-Haage
aus Erfurt. Als Friedrich Adolph Haage
für das 1685 gegründete Unternehmen 1824 den ersten Katalog herausbringt, ist noch nicht einmal die Briefmarke erfunden (die kommt 1840 in England, der Schwarze Einser folgt am 1. November 1849). Der Postbote kassiert an der Haustür, was der Kundschaft der Katalog wert ist.
Bis zum ersten Weltkrieg sind es nur Einzelne, die im Versandhandel aktiv sind. Sie verschicken zumeist Preislisten, einzelne sogar bebilderte Preislisten. Kataloge bleiben die Ausnahme. Der von Katalogen befeuerte Versandhandel entsteht in Deutschland in der Weimarer Republik. Der Kaufrausch nach Krieg und früher Nachkriegszeit führt in den großen Städten zur Gründung von großen Warenhäusern. Für die Versorgung der Bevölkerung in der Fläche mit dem nachgefragten Warenangebot bietet sich der Versandhandel an. Vor allem im süddeutschen Raum wird gegründet: Die K - Mail Order GmbH & Co. KG
wird 1923 unter dem Namen Robert Klingel GmbH + Co. KG in Pforzheim ins Leben gerufen.
Der gelernte Schuhkaufmann Friedrich Baur
gründet im fränkischen Burgkunstadt, einem Zentrum der deutschen Schuhindustrie, 1925 den Baur Versand
. Dieser ist zunächst reiner und erster Schuhversender in Deutschland. Baur führt als Erster in Deutschland die Sammelbestellung ein. 1926 folgt in Pforzheim das Versandhaus Friedrich Wenz für Mode, Schuhe und Schmuck
, ein Jahr später gründet Gustav Schickedanz
in Fürth den Quelle-Versand
, 1929 folgt in Pforzheim Bruno Bader
mit dem Bader-Versand
. Bader verschickt zunächst nur Schmuck, Armbanduhren, Tafelbesteck und Silberwaren. 1938 hat der Bader-Katalog 100 Seiten und das Unternehmen 500 Angestellte. Gebeutelt von der Weltwirtschaftskrise satteln die Eheleute Wilhelm und Wilhelmine Schöpflin
in Lörrach vom Großkunden- auf das Endkundengeschäft um: 1930 gründet Schöpflin ein Versandhaus, wozu ein Besuch in einem Pariser Kaufhaus den Anstoß gibt.
Während der Zeit des Nationalsozialismus sind einzelne Versandhandelsunternehmen sehr aktiv: Josef Schickedanz
profitiert als NSDAP-Ratsherr in Fürth von dem Raub jüdischen Eigentums durch "Arisierung". Josef Neckermann
kommt ebenfalls mithilfe der NSDAP in den Besitz mehrerer Textilhersteller und Wäschegeschäfte. Gemeinsam mit Hertie
-Chef Georg Karg
, der sein Warenhaus in den 1930er Jahren ebenfalls durch Arisierung begründet, startet Josef Neckermann Ende 1941 die 'Zentrallagergemeinschaft für Bekleidung' (ZLG), über die er SS und Wehrmacht quasi als Monopolist beliefern darf. Neckermann steigt unter Albert Speer
sogar zum 'Leiter der Reichsstelle Kleidung' auf.
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