Corona und Online-Lebensmittelhandel

von Sebastian Halm

30.04.2020 Corona gilt vielen als der große Digitalisierungs-Motor. Jetzt werde auch der Lebensmittel-Onlinehandel kommen und dauerhaft bleiben, glauben viele. Doch eine genaue Analyse gibt Anlass zu klarer Skepsis.

 (Bild: Hans / Pixabay)
Bild: Hans / Pixabay
Verschiedene Umfragen, Artikel und Prognosen sehen den Online-Lebensmittelhandel angesichts Corona vor oder schon bereits hinter dem Durchbruch stehen (vergleiche Berichte zum 'Durchbruch für den Lebensmittel-Onlinehandel' in der Welt   oder im Schweizer Newsportal Nau.ch   ). Nun, so heißt es, sei der Knoten geplatzt, die Konsumenten haben den ihnen bisher unbekannten Online-Lebensmittelhandel endlich kennengelernt (der Onlineanteil an der Warengruppe Lebensmittel liegt irgendwo unter einem Prozent). Aber nun werden die Konsumenten den FoodCommerce nicht mehr missen wollen: "Konsumenten gewöhnen sich sicher an diesen sicheren, bequemen und einfachen Kaufkanal und verändern nachhaltig ihr Einkaufsverhalten", glaubt etwa der ECommerce-Experte der ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften   . Dies werde Druck auf den Handel ausüben. Aber: Nehmen die Konsumenten den Onlinehandel mit Lebensmittel überhaupt als 'sicher, bequem und einfach' wahr? Das wäre Voraussetzung, damit die temporäre Verhaltensänderung zu einer dauerhaften wird, weil aus dem Online-Kauf aus Not einer aus Überzeugung wird.

Doch unsere exklusiven Zahlen legen nahe, dass der E-Commerce mit Lebensmitteln und anderen Dingen des täglichen Bedarfs ein krisengebundenes Phänomen ist und mit ihr wieder verebben wird.

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ECommerce-Umsatz mit Lebensmitteln und Drogerieprodukten in Deutschland 2015 bis 2021

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Der Blick auf allgemein verfügbare Zahlen stützt vordergründig die These vom großen Gewinner 'FoodCommerce': So zeigt sich, dass der Onlinehandel in der Gänze wegen der Krise angeschlagen ist - nur beim Blick auf die Segmente Lebensmittel, Medikamente und Tierbedarf gibt es Wachstum. Und auch Zahlen des Handels-Marktforschers IFH   legen die gleiche Tendenz nahe: So geben zwar neun von zehn Nutzern an, ihr Einkaufsverhalten nicht gen Online verlagert zu haben, aber mehr als einer hat dies schon getan (13 Prozent) - und zwar für Dinge, wie man sie im Supermarkt findet: Hygieneartikel, Lebensmittel, Tierfutter. 2019 erwirtschaftete der Lebensmitteleinzelhandel in Deutschland laut Statista   rund 125 Milliarden Euro - verschwänden 13 Prozent davon dauerhaft Richtung Online, wäre das ein Umsatz von 16 Milliarden.

In Anbetracht eines ECommerce-Umsatzes von insgesamt 72 Milliarden in 2019 wäre das ein schlagartiges Wachstum von über einem Fünftel, eine der rasantesten Marktvergrößerungen in der Geschichte des Onlinehandels, der schlagartig von 72 auf 88 Milliarden wüchse. Der bisherige (prognostizierte) Umsatz des Lebensmittel-Onlinehandels in 2020 von 4,4 Milliarden wüchse mit einem Mal auf 20 Milliarden, der Anteil des FoodCommerce am E-Commerce damit von 7 auf 27 Prozent. Lebensmittel wären schlagartig auf Augenhöhe mit Mode und Elektro, den bislang mächtigsten Online-Warengruppen. Das würde Marketing, Agenturlandschaft und Commerce nachhaltig verändern - doch es wird eher nicht so kommen.

Schauen wir auf unsere exklusiven Umfragezahlen, die der Marktforscher Appinio   erstellt hat. Quelle ist eine repräsentative Online-Umfrage vom 27. März 2020 unter 1.004 Menschen, die online schon mal Lebensmittel gekauft haben. Wir haben also anders als andere Studien nicht den E-Commerce, den stationären Handel oder den gesamten Handel analysiert, sondern nur die Menschen, die Online-Supermärkte nutzen.

Dabei fällt auf: Innerhalb der letzten 12 Monate oder noch länger zurückliegend haben 35 Prozent der Befragten erstmals online Lebensmittel gekauft. Innerhalb der letzten drei Wochen vor dem Umfragetermin (also dem Zeitpunkt, an dem die Krise so signifikant eskalierte, dass sich das allgemeine Bewusstsein und Verhalten veränderte) waren es ebenso viele. Die Zahl der Neukunden entspricht also etwa der Zahl der 'alten Hasen'. Jedoch zeigt sich, dass die Zahl der neuen Onliner signifikant von Woche zu Woche anstieg: Mit Druck und leeren Regalen ist die Online-Migration gewachsen.

Preview von Wann haben Sie zum ersten Mal Dinge des täglichen Bedarfs online eingekauft?
Starker Shopping-Motor Corona: 44 Prozent der Onlinekäufer von Lebensmitteln haben dies vier Wochen vor der Umfrage erstmals getan.

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Nun ist die Frage spannend, ob diese 35 Prozent Neukunden binnen drei Wochen - oder sogar 44 Prozent, rechnet man den ganzen Monat vor Umfragedatum zusammen - dauerhaft online bleiben werden, sprich: Sind sie gekommen, um zu bleiben. Dafür müsste der Onlinehandel mit Lebensmitteln veritable Vorteile bieten, die zum Verweilen einladen. Denn de facto mögen Menschen ihren echten aus Stein und Glas erbauten Supermarkt - die stationären Bestandskunden geben in der Krise an, tendenziell sogar noch mehr stationär und lokal einkaufen zu wollen.

Es zeigt sich: Die Top-Gründe, weshalb Menschen online kaufen, sind vor allem Commodity-Gründe: Man muss nicht schleppen oder an der Kasse warten, man findet mehr Produkte und das auf einfachere Weise.

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Adios, Schleppen und Warten - das nehmen die meisten als Vorteile des FoodCommerce wahr.

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Wären Onlinehandel und stationärer Handel in der Lebensmittelbranche ansonsten gleichwertig, wären diese Vorteile sicherlich der Todesstoß für die Supermärkte. Doch der Blick auf die Nachteile des FoodCommerce aus Verbrauchersicht offenbart: stationärer Lebensmittelhandel und FoodCommerce sind bei harten Faktoren zwei paar Schuhe:

Die Lieferungen erzeugen den Verbrauchern zu viel Müll, dauern ihnen zu lange, wecken in den Kunden Zweifel an der Frische und sind ihnen zu teuer.

Preview von Was sind aus Ihrer Sicht mögliche Nachteile beim Kauf von Dingen des täglichen Bedarfs im Internet?
Signifikante Nervensäge: Jeden zweiten nervt der Müll, den Lebensmittelbestellungen verursachen.

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Im Versuch herauszufinden, ob diese Nachteile die Neukunden der Onlinesupermärkte vertreiben werden, haben wir einen Vergleich unternommen: Wir haben die Menschen, die erstmals in den vier Wochen vor Umfragedatum online Lebensmittel gekauft haben, denen gegenübergestellt, die der FoodCommerce wohl bereits verloren hat: Das sind potentiell all jene, die vor 12 Monaten oder länger erstmals online eingekauft haben und dies dann nur ein bis drei Mal. Menschen also, die Kontakt mit Online-Lebensmittel hatten und deren Verhalten nahelegt, dass sie daraufhin "Ein Mal und nie wieder!" ausriefen.

Preview von Was Nutzer am Online-Lebensmittelhandel stört - Neukunden vs potenziell verlorene Kunden
Wer vor langer Zeit dem Online-Lebensmittelhandel den Rücken gekehrt hat, ist vor allem vom Müll genervt - ähnlich viele stört die Lieferfrist.

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Es zeigt sich, dass die Neukunden und die potentiell verlorenen Kunden nicht so unterschiedlich sind. Die größten Unterschiede gibt es beim Preis: Hier sind die Neukunden viel toleranter - man darf aber annehmen, dass dies der Situation geschuldet ist: Ehe man gar keine Nudeln und Toilettenpapier bekommt, zahlt man halt etwas mehr. Auch die Lieferzeiten, üblich ein großes Problem des FoodCommerce (und in der Krise noch deutlich verschärft) sind in Anbetracht der Situation nicht so entscheidend: Man kauft nicht kurzfristig, sondern hamstert strategisch - nach dem Motto: egal, wann es ankommt, Hauptsache es kommt halbwegs zeitnah an. Dieses Ausnahmeverhalten als Treiber hinter dem FoodCommerce-Boom legt ein weiterer Wert nahe: Warenverfügbarkeit und Angst vor Ansteckung sind den brandheißen Neukunden ('vor einer Woche erstmals online gekauft') kaum wichtiger, als den alteingesessenen Online-Lebensmittelkäufern (vor mehr als einem Jahr zu Online-Kunden geworden). Die signifikante Abweichung zeigt sich beim Hamstern: Neukunden wollen Vorräte anlegen.

Preview von Wann Kunden mit Corona-bezogenen Einkaufsmotiven erstmals online Lebensmittel kauften
Klarer Grund für die Konversion zum FoodCommerce-Neukunden. Man will hamstern.

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Für diese Vorratshaltung, dem herausstechenden Treiber hinter dem Onlinekaufverhalten im Lebensmittel-Bereich, gibt es nach der Krise keinen Anlass mehr. Wozu noch Vorräte anlegen, wenn die Pandemie vorüber ist?
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