Trends im E-Commerce 2023 by Seite 4 Online-Shop Wie der Staat Online-Shops zur digitalen Barrierefreiheit verpflichtet Layout vor, das die Vorgaben an Kontrast und Schriftgröße vorbildlich erfüllt. Der Deutsche Blinden- und Sehbehinder- tenverband hat die Vorgaben auf seiner Website www.leserlich.info übersicht- lich zusammengefasst. In aller Kürze: Ein Kontrastverhältnis von 4,5:1 gilt als Untergrenze, Schriftgrößen unter 14 pt benötigen einen Schärfegrad von 7:1. y a b a x i P / n n a m t l A d r e G : d l i B Noch ist das barrierefreie Internet ein Traum. Doch die EU verpflichtet Online- shops, den inklusiven Traum wahr zu machen. Die Uhr tickt, aktiv zu werden im eigenen Shop. Das ist schon lustig. Da bemühen sich Behörden und Ministerien seit Jahren darum, das Internet für alle zugänglich zu machen. Per Gesetz sollen existieren- de Barrieren in Wort, Bild, Video, der Nutzung generell, so abgebaut werden, dass Menschen, die nicht oder nicht gut sehen oder hören, deshalb nicht von der Online-Welt ausgesperrt sind. Das gilt auch für Menschen, die Computertasta- turen oder Touchscreens nicht bedienen können. Vollständig barrierefrei soll der Zugang ins Netz werden. Und was kommt dabei heraus? Wortungetüme in Juristendeutsch, die nur Menschen ver- stehen oder überhaupt lesen können, die tagtäglich damit zu tun haben. „Medienänderungsstaatsvertrag“ ist ein schönes Beispiel, aber es geht noch bes- ser: „Barrierefreiheitstärkungsgesetz“ etwa oder auch „Behindertengleichstel- lungsgesetz“, das vor drei Jahren um die Barrierefreie-Informationstechnik-Ver- ordnung erweitert wurde. Der Staat agiert als Taktgeber Aber sei‘s drum. Letztlich zählen ja die Resultate, nicht wahr? Und die sehen in der Tat vielversprechend aus - wenn sie Webseitenbetreibern auch viel Arbeit machen werden und einigen auch bereits gemacht haben. Sehr weit ist es mit der digitalen Barrierefreiheit im deutschen Internet noch nicht gediehen. Aber im- merhin: Die Ministerien gehen mit gu- tem Beispiel voran. Zentrale Punkte ha- ben sie bereits erfüllt. Funktionsweise und Angebot ihrer Web- seiten werden in mehreren Videos von GebärdensprachdolmetscherInnen er- klärt und zahlreiche Informationen lie- gen in der sogenannten Leichten Sprache vor, also in kurzen Sätzen, die sich auf eine einzige Aussage beschränken und in Aktivform gebildet sind. Vor der Frei- gabe werden sie zudem von Menschen mit Lernschwierigkeiten gelesen und nur wenn sie ihr Okay geben, gilt das Prä- dikat Leichte Sprache. Beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge heißt es zum Beispiel über die Integrationskurse: „Im Sprach-Kurs lernen Sie Deutsch. Sie lernen alles, was Sie im Alltag und bei der Arbeit brauchen. Zum Beispiel: • wenn Sie einkaufen, • wenn Sie zu Behörden gehen, • wie Sie eine Bewerbung schreiben.“ Sprach-Kurs ist hier richtig geschrie- ben, denn Komposita werden in Leichter Sprache durch einen Bindestrich ge- trennt. Die gesamte Website des Ministe- riums ist zudem durchgehend durch eine deutlich größere Schrift gekennzeichnet, als sie etwa auf journalistischen Websites üblich ist. Zeilenabstände, Durchschuss, Absätze: Alles ist auf eine gute, schnelle Lesbarkeit hin ausgerichtet. Prinzipien der digitalen Barrierefreiheit Sanktionen? Ja, auch die gibt es: Verant- wortlich dafür ist die Überwachungsstel- le des Bundes für Barrierefreiheit von In- formationstechnik. Ein erster Bericht ist an die EU bereits gesendet worden. Be- gonnen hat die Entwicklung zur digitalen Barrierefreiheit vor sechs Jahren, als die EU ihre Richtlinie 2016/2102 erließ, die alle öffentlichen Stellen in ihrem Ein- zugsbereich dazu aufrief, ihre Websites und Apps nach den folgenden Grundsät- zen zu gestalten: • „Wahrnehmbarkeit, d. h., die In- formationen und Komponenten der Nutzerschnittstelle müssen den Nut- zerinnen und Nutzern in einer Wei- se dargestellt werden, dass sie sie wahrnehmen können; • Bedienbarkeit, d. h., die Nutzerin bzw. der Nutzer muss die Kompo- nenten der Nutzerschnittstelle und die Navigation handhaben können; • Verständlichkeit, d. h., die Informa- tionen und die Handhabung der Nut- zerschnittstelle müssen verständlich sein; und • Robustheit, d. h., die Inhalte müssen robust genug sein, damit sie zuver- lässig von einer Vielfalt von Benut- zeragenten, einschließlich assistiven Technologien, interpretiert werden können.“ Aufgerufen deswegen, da eine EU- Richtline, anders als eine Verordnung, noch keinen rechtlich bindenden Cha- rakter für die einzelnen Staaten hat. Erst die Umsetzung der EU-Richtlinie in na- tionales Recht verwandelt sie in geltende Gesetze. Deutsches Recht setzt EU-Richtlinien um In Deutschland wurde dafür das Be- hindertengleichstellungsgesetz von 2002 entsprechend ergänzt. Alle Infor- mationen über die nötigen Änderungen fließen bei der Bundesfachstelle Bar- rierefreiheit ein, die vom Bund bei der Deutschen Rentenversicherung Knapp- schaft Bahn-See (KBS) angedockt wur- de, um die Bundesbehörden bei der Um- setzung zu beraten. Wer zum Beispiel auf die Seiten der AOK, der Ministerien, der IHKs oder von Hochschulen wie der LMU München geht, findet sie heute alle in einem außerordentlichen lesbaren Online-Shops haben noch drei Jahre Zeit Der Staat hat also vorgelegt. Aber was ist mit der Privatwirtschaft? Die wird durch den ‚European Accessibility Act‘ von der EU schon seit drei Jahren in die Pflicht genommen, hat aber noch bis 2025 Zeit, um die durchaus komplexen Anforderungen der Richtlinie zu erfül- len. Ja, auch in diesem Fall ist es Sache der einzelnen EU-Länder, die Vorgaben in nationales Recht umzuwandeln, was im Falle Deutschlands vor über einem Jahr geschah. Das Barrierefreiheitsstär- kungsgesetz (BFSG) kümmert sich um die passende Gestaltung von Produkten und Dienstleistungen, worunter unter anderem Computer, Bankautomaten, Smartphones, Online-Banking, E-Books und E-Commerce fallen, weil diese An- gebote von der EU als besonders wichtig für Menschen mit Behinderungen einge- stuft wurden. Stichtag ist der 28. Juni 2025. Also in weniger als drei Jahren. Was natürlich, abhängig von der Komplexität des Ange- bots, viel oder gerade noch ausreichend Zeit ist. Ralf Gladis, Mitgründer und Geschäftsführer des Bamberger Zah- lungsdienstleisters Computop, hat seine Firmen-Website bereits weitgehend auf Vordermann gebracht und berät E-Com- merce-KundInnen beim barrierefreien Check-Out: „Jemand, der keine Maus bedienen kann, muss mit der Tab-Taste durch den Shop bis hin zur Kasse und zum Bezahlvor- gang navigiert werden. Anderen müssen einzelne Webseiten-Elemente vielleicht vorgelesen werden.“Grundsätzlich gehe es Computop darum, den Check-Out- Prozess so einfach und kurz wie möglich zu gestalten. Gladis nennt einige Details: „Die Bedienfelder der Ausfüllformula- re sollten zoombar sein und der ‚Jetzt bestellen“-Button darf von der Tab-Tas- tenfunktion auf keinen Fall ausgeschlos- sen werden.“ Kleinigkeiten, die in der Praxis aber groß ins Gewicht fallen, so Gladis, denn wer würde schon KundIn- nen direkt vor dem Kaufabschluss verlie- ren wollen. Einige Online-Shops sind früh dran Ganz unvorbereitet treffen die Vorgaben die E-Commerce-Branche nicht. Eini- ge Big Player haben ihre Hausaufgaben bereits gemacht und schneiden bei soge- nannten WCAG-Tests besonders gut ab. Dabei handelt es sich um die Web Con- tent Accessibility Guidelines des World Wide Web Consortiums (W3C). Es wird von Tim Berners-Lee geleitet, dem Ent- wickler Internet-Tech- niken. Solche Tests lassen sich im Netz leicht finden (zum Beispiel hier: Siteim- prove.com oder hier: bik-fuer-alle). fundamentaler Als vorbildlich gelten demzufolge etwa die Online-Shops von Mediamarkt, Hornbach oder C&A. Und was ist mit jenen Anbietern von Produkten und Dienstleistungen im Internet, die den Vorgaben nicht nachkommen? „Je nach Produkt oder Dienstleistung gibt es un- terschiedliche Maßnahmen“, erklärt Angelina Marko, Fachreferentin In- dustrie 4.0 & Technische Regulierung beim Fachverband Bitkom. „So kann die Nichterfüllung der Barrierefreiheit zu einem Ausschluss bei Angeboten bei öffentlichen Ausschreibungen führen. Bei Produkten und Dienstleistungen, die vom BFSG betroffen sind, kann zudem die Marktaufsicht eingeschaltet werden und Verbraucher haben ein privates Kla- gerecht.“ Das barrierefreie Fernsehen Nach und nach werden die wichtigsten Bereiche des Internets von Barrieren befreit. Seit Juli ist auch das Fernsehen inklusive dessen Internet-Variante dazu aufgerufen, seine Programme auch Men- schen mit Behinderungen voll zugäng- lich zu machen. Neuesten Erhebungen zufolge machen sie etwa zehn Prozent der Bevölkerung aus. Festgehalten sind die Vorgaben für audiovisuelle Medien im 2. Medienänderungsstaatsvertrag, der Ende Juni veröffentlicht wurde. Un- tertitel, Audiodeskriptionen und Leichte Sprache sollen den Konsum von TV- und Mediatheken-Inhalten erleichtern. Bei den staatlichen Sendern ist man dabei schon weiter als bei den Privaten. So sind zuschaltbare Untertitel inzwischen Standard bei ARD und ZDF, es gibt zahl- reiche Hörfilme und Videos mit Gebär- densprache. Die jährlichen Monitorings der Medienanstalten haben aber auch bei den privaten Fernsehsendern zuletzt gro- ße Fortschritte dokumentieren können. So haben die RTL-Sender inzwischen bei 30 Sendungen täglich Untertitel im Angebot (wenn auch keine Nachrichten- sendungen dazu gehören). ProSieben- Sat1 stattet heute mehr als ein Drittel sei- ner Sendungen mit Untertiteln aus. Auch Audiodeskriptionen werden von allen Privaten immer häufiger angeboten, mal über spezielle Apps, mal zusammen mit dem Fernsehsignal. Die barrierefreie Gestaltung von Inter- net-Angeboten ist aber auch nötig, um externe Angebote für Menschen mit Behinderungen aktivieren zu können: „Screenreader etwa werden von vielen Menschen genutzt, die blind oder sehbe- hindert sind“, sagt Simone Miesner von der Bundesfachstelle Barrierefreiheit. „Doch diese Programme können Texte und andere Inhalte nur dann erfassen und vorlesen, wenn das Angebot barri- erefrei ist.“ Es dürfte also sicher noch einige Jahre dauern, bis alle zentralen Bereiche des Internets barrierefrei sind, doch das The- ma hat, vor allem dank der Legislative, eindeutig Fahrt aufgenommen und wird sich dank der Trendsetter-Dynamik von jetzt ab nur noch beschleunigen. Autoren: Christian Gehl, Frauke Schobelt